In der EU-Politik haben wir Twitter als soziales Netzwerk behandelt, nicht als digitale öffentliche Infrastruktur – und das alles auf einer Plattform, die wir nicht kontrollieren

Rückblickend war es in vielerlei Hinsicht eine ziemlich gute Zeit: die rund Dutzend Jahre auf Twitter. Von Frühjahr 2009, als ich damit anfing, Twitter für EU-politische Zwecke zu nutzen, bis 2022, als alles schiefging, konnte man auf der Plattform viel erreichen.

Aber das basierte auf einem Missverständnis: nämlich, dass es sich bei Twitter um ein soziales Netzwerk und keine digitale öffentliche Infrastruktur handele.

Es fing alles ganz harmlos an. In den Jahren 2005-2009 befand ich mich mitten in einer partizipativen und dezentralen Bloggerszene, und Twitter war zunächst eine Ergänzung dazu – der Ort für die schnelle Interaktion sowie fürs Kundtun von Überlegungen, die kein eigenes Blogpost ausfüllen würden. Und im Gegensatz zu Facebook und LinkedIn, die vor Twitter entstanden sind – zumindest für mich, als ich mich angemeldet habe – hatte Twitter eine Menge zu bieten. „Folgen“ statt „Gefällt mir“ verlieh den Interaktionen eine Neutralität, die sich für öffentliche politische Diskussionen gut eignete. Die Möglichkeit, mit Menschen überall zu interagieren – also auch mit solche, die man im „echten Leben“ nicht kennt – , war ein weiterer Vorteil. So konnte ich das, worüber ich sprach, einem neuen Publikum nahebringen und Gemeinschaften mit den unterschiedlichsten Interessen zusammenbringen.

Die EU-Institutionen sind auf den Twitter-Zug aufgesprungen – unter anderem durch das Engagement von Neelie Kroes. Das Ganze erreichte 2014 einen Höhepunkt, als ein neuer Kommissar – dessen Twitter-Namen ich vorsorglich registriert hatte – seine Mitarbeiter dazu veranlasste, mich zu kontaktieren, um diesen Account „offiziell“ zu machen. Ein Kommissar muss einen Twitter-Account haben, sagte mir der Mitarbeiter, und ich kicherte und nickte und übergab ihm den Account.

Es ist viel passiert. Ich meldete politische Skandale auf Twitter. Ich organisierte informelle Veranstaltungen, die als #EUTweetup bekannt wurden. Ich koordinierte Proteste gegen Berlusconi auf Twitter. Ich war Teil einer bemerkenswerten Gemeinschaft von Brexit-Experten auf Twitter.

Beruflich habe ich es geschafft, eine Gastdozentur am Europakolleg zu bekommen, vor allem weil ich zukünftige Eurokraten über Twitter unterrichten konnte. Ich habe Dutzende von Schulungskursen für NGOs, Wirtschaftsverbände und EU-Institutionen zum Thema Twitter durchgeführt. Ich habe dadurch berufliche Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen, die ein Leben lang halten werden.

Aber wir haben Twitter zu etwas gemacht, ohne das die EU-Politik-Nerds nicht auskommen konnten.

Wir bauten eine öffentliche digitale Infrastruktur auf – auf einer amerikanischen, privaten Plattform.

Die Frivolität der ersten Jahre – in denen etwa Berlaymonster einen Witz mit Cecilia Malmström auf der Seite austauschen konnte – wurde durch Professionalität und Ernsthaftigkeit ersetzt, was sich nicht immer zum Besten auswirkte. Sicher, Twitter war immer noch der Ort für Eilmeldungen – eine Einigung im Europäischen Rat wurde von Donald Tusk getwittert, bevor sie der Presse mitgeteilt wurde. Aber das bedeutete auch, dass in den Feeds von hochrangige Leute etwas von der unmittelbaren Persönlichkeit verloren ging, die die Plattform versprach. Wenn man auf Twitter einen Fehler macht, kann das nämlich leicht zu einem großen politischen Skandal werden. Es ist besser, wenn die Mitarbeiter für einen twittern, als wenn man es selbst macht.

Natürlich gab es auch Warnzeichen. Die enorme Vielfalt der Twitter-Tools aus den Anfangstagen wurde schon während Jack Dorseys Zeit als CEO eingeschränkt, bevor Elon Musk dem ein komplettes Ende setzte. Aber ich blieb erst einmal. Twitter muss Geld verdienen, sagte ich mir. Und versierte Nutzer konnten immer noch chronologische, nicht algorithmisch gefilterte Timelines erhalten, wenn sie wussten, was sie taten (und ich habe meinen Kunden beigebracht, wie man das macht). Sie konnten auch als solche gekennzeichneten Anzeigen in ihren Browsern vermeiden, sofern sie einen Werbeblocker verwendeten. In den guten Zeiten hätte ich dafür bezahlt, Twitter zu nutzen, um dies zu vermeiden, aber damals gab es keine Möglichkeit dazu.

Ich hatte einen Parodie-Account, der kurzerhand gesperrt wurde, ohne dass es eine Möglichkeit gab, ihn zurückzubekommen – eine interessante Warnung, wie ich finde. Und natürlich gab es auch immer mehr Trollings und Bot-Inhalte, die in meiner Timeline während des Brexit-Referendums ihren Höhepunkt erreichten.

Aber der springende Punkt war, dass es trotz alledem zuverlässig, Mainstream, und vorhersehbar genug war, um es weiterhin zu nutzen – Bis Elon Musk auftauchte.

Und als er auftauchte und es schnell kaputt machte, war es für mich nicht allzu schwer, zu entkommen (wie ich hier beschrieben habe).

Twitter hinter sich zu lassen, war nicht ohne persönliche Kosten, aber ob ich auf Twitter bin oder nicht, ist für das Netzwerk in der EU-Politik nicht wirklich entscheidend. Sicher: Es gibt ein paar Leute dort, die ab und zu meine Tweets vermissen könnten. Aber ich bin kein Politiker, der auf einem Gipfel ein Abkommen abschließt, keine Kommunikationsabteilung einer Generaldirektion der Europäischen Kommission, die meint, sie müsse eine breite Öffentlichkeit über ihre Arbeit informieren – und auch kein Journalist, der zumindest teilweise dafür bezahlt wird, dass seine Artikel von vielen Menschen gesehen werden. Für sie ist Twitter eine Infrastruktur, auf die sie nicht verzichten wollen.

Bei den meistgenutzten Alternativen sieht es kaum besser aus. Gegen TikTok gibt es Spionagevorwürfe. Meta (zu der auch Facebook und Instagram gehören) ist ebenfalls eine zentralisierte Plattform in amerikanischem Besitz und hat damit die gleiche Schwäche wie Twitter. LinkedIn – im Besitz von Microsoft – ist vielleicht ein bisschen widerstandsfähiger, aber auch nicht unbedingt die bessere Wahl. Und das, bevor wir zu dem kommen, was Cory Doctorow die „Verscheißerung“ (orig. „enshittification„) dieser Plattformen nennt – sprich: der schleichende Prozess des Immer-Schlechter-Werdens.

Was ist also die Antwort?

Eine europäische, öffentlich finanzierte digitale Infrastruktur (wie sie in Papieren wie diesem beschrieben wird). Bemühungen, die Werte öffentlicher Einrichtungen mit der von ihnen genutzten Technologie in Einklang zu bringen – wie von Ethan Zuckerman und anderen hier beschrieben. Dezentralisierte, quelloffene Tools, die nicht von einer zentralen Instanz kontrolliert werden, einer nicht rechenschaftspflichtigen möglichen Fehlerstelle. Baue stattdessen Dinge wie social.bund.de auf Mastodon auf.

Und auf individueller Ebene müssen diejenigen, die ethischere Entscheidungen treffen können, mit den Füßen abstimmen – und die zentralisierten, unethischen Plattformen hinter sich lassen und ihren Beitrag zum Aufbau besserer Alternativen leisten.

Als europäische Politiker in den 2010er Jahren entsetzt darüber waren, dass es in Europa kein großes Tech-Unternehmen wie Facebook gibt, habe ich diese Sorge geteilt. Jetzt – in den 2020er Jahren – sehe ich das ganz anders. Dezentralisiert, quelloffen, interoperabel, eine Mischung aus kommerziellen und nicht-kommerziellen Angeboten ist der richtige Weg – und mit der Einsicht, dass es nicht klug ist, öffentliche Infrastruktur auf privatem Grund und Boden aufzubauen, weder in der digitalen noch in der physischen Welt.

Wir stehen erst am Anfang unserer Überlegungen zu diesem Thema. Aber die Zeit Ende 2022, als ein Tech-Bro auf einen Schlag viel von dem zerstörte, worauf wir jahrelang aufgebaut hatten, wird uns in den kommenden Jahren als warnendes Beispiel dienen.

 

Dies ist die Übersetzung eines Beitrags aus dem Euroblog von Jon Worth. Den Originalartikel auf Englisch findest du hier.

 

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Adrian Black by Cable Bundles on June 20, 2008
Licenz: Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0)

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